EuGH, Urteil vom 15.07.2021, Az. C-795/19
Leitsatz: Eine Verordnung in Estland, nach der Strafvollzugsbeamte ein bestimmtes Mindesthörvermögen aufweisen müssen, wobei die Verwendung von Hilfsmitteln wie Hörgeräten bei der Beurteilung des Hörvermögens nicht gestattet ist, verstößt gegen die EU-Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie.
Der Fall: Der Kläger des Ausgangsverfahrens war mehr als 14 Jahre als Strafvollzugsbeamter zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten beschäftigt. Aufgrund einer neuen Verordnung wurde er wegen schlechten Hörvermögens entlassen. Diese sah unabhängig der konkreten Verwendung im Strafvollzug u.a. Mindestschwellen für das Hörvermögen vor. Der Strafvollzugsbeamte klagte daraufhin auf Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Kündigung und auf Zahlung einer Entschädigung.
Die Entscheidung des Gerichts: Nachdem der Strafvollzugsbeamte in erster Instanz noch unterlegen war, stellte das Berufungsgericht die Rechtswidrigkeit der Kündigung fest und verurteilte die Strafvollzugsanstalt zur Zahlung einer Entschädigung.
Das Berufungsgericht entschied zudem, ein gerichtliches Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Verordnung beim Staatsgerichtshof von Estland einzuleiten. Dieses legte wiederum den Fall dem EuGH vor mit der Frage, ob die Bestimmungen der Richtlinie 2000/78 (Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie) einer nationalen Regelung wie der Verordnung entgegenstehen.
Der EuGH stellte fest, dass die Verordnung eine Ungleichbehandlung im Sinne der Richtlinie begründet, die unmittelbar auf einer Behinderung beruht. Zwar ist das Ziel der Verordnung, nämlich die Einsatzbereitschaft der Haftanstalten zu gewährleisten, an sich legitim. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist aber eine Regelung nur dann zur Erreichung des Ziels geeignet, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird. Daran aber fehlt es hier, denn während die Einhaltung der von der Verordnung festgelegten Mindesthörschwellen beurteilt wird, ohne dass der betreffende Strafvollzugsbeamte die Möglichkeit hat hierbei eine Hörhilfe zu verwenden, ist dies ohne ersichtlichen Grund bei der Beurteilung des Sehvermögens in der Verordnung abweichend geregelt.
Darüber hinaus beanstandete der EuGH, dass die Mindesthörschwelle für alle Strafvollzugsbeamten gleich gelte und zwar ohne Ansehung der konkreten Einrichtung oder Verwendung. Im Strafvollzug gibt es aber auch Aufgaben ohne häufige Gefangenenkontakte, wie etwa die Überwachung von Kontroll- und Signaleinrichtungen. Außerdem berücksichtigt die Verordnung nicht, dass die Hörschwäche mit Hörhilfen korrigiert werden kann, die miniaturisiert, im Ohr oder sogar unter einem Helm getragen werden können.
Das bedeutet die Entscheidung für Sie: Auch wenn die Entscheidung in Estland spielte, ist die Argumentation auf Deutschland ohne weiteres übertragbar. So hat der Gesetzgeber auch hier die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie zu beachten und Maßnahmen zu unterlassen, die mittelbar oder unmittelbar diskriminieren.