Der richtige Zeitpunkt der Anhörung zur Kündigung | Barrierefreie Gestaltung von Arbeitsplätzen ist Pflicht | Zusammenarbeit von BR und SBV

Liebe Kolleginnen und Kollegen der SBV,

vielleicht haben Sie schon gehört, dass das Bundeskabinett Anfang Februar das Teilhabestärkungsgesetz verabschiedet hat. Mit dem Ziel einer inklusiven Gesellschaft sollen zahlreiche Regelungen die Teilhabe von Menschen mit Behinderung im Alltag, aber auch im Arbeitsleben erleichtern. Das Gesetz sieht zudem Vereinfachungen beim Meldeverfahren zum Kurzarbeitergeld vor.

Wir haben in diesem Newsletter speziell für Sie als SBV u.a. neueste Rechtsprechung zusammengestellt und mit hilfreichen Tipps praxisnah für Sie aufbereitet. Damit möchten wir Ihnen aktuelles Wissen an die Hand geben, um für zukünftige Herausforderungen gut gerüstet zu sein.

Viel Freude beim Lesen und bleiben Sie gesund!

Herzliche Grüße
Ihre W.A.F.

Inhalt

Top-Thema der SBV

  • Der richtige Zeitpunkt der Anhörung zur Kündigung

SBV fragt – W.A.F. antwortet

  • Darf unser Arbeitgeber uns zwingen, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen? Was ist mit behinderten Kollegen, die gesundheitlich dazu nicht in der Lage sind?

Rechtsprechungsmonitor

  • Barrierefreie Gestaltung von Arbeitsplätzen ist Pflicht
  • Keine Beteiligung der SBV vor Entscheidung über den Gleichstellungsantrag erforderlich
  • Verwirkung des Sonderkündigungsschutzes (schwer-)behinderter Arbeitnehmer

Neue Seminarangebote der W.A.F.

Top-Thema der SBV
Der richtige Zeitpunkt der Anhörung zur Kündigung

Will ein Arbeitgeber einem (schwer-)behinderten Kollegen kündigen, muss er den Betriebsrat nach § 102 BetrVG anhören. Außerdem muss er vor der Kündigung eines (schwer-)behinderten Kollegen zwingend auch die Schwerbehindertenvertretung informieren und anhören. So bestimmt es § 178 Abs. 2 S. 3 SGB IX.

Ein Urteil des Arbeitsgerichts Hagen zeigt sehr deutlich, wann die Anhörung der Schwerbehindertenvertretung zu beginnen hat (Arbeitsgericht Hagen, Urteil vom 06.03.2018, Az. 5 Ca 1902/17). Das Landesarbeitsgericht Hamm hat diese Entscheidung bestätigt (LAG Hamm, Urteil vom 11.10.2018, Az. 15 Sa 426/18).

Ein Arbeitgeber wollte einem schwerbehinderten Arbeitnehmer kündigen, und zwar per Änderungskündigung. Dabei handelte es sich um eine ganz normale Kündigung, verbunden mit dem Angebot, das Arbeitsverhältnis zu anderen Bedingungen fortzusetzen. Dieses muss der Arbeitnehmer dann noch annehmen. Natürlich kann er das Angebot auch unter Vorbehalt annehmen und parallel Kündigungsschutzklage erheben.

Wie bei jeder Kündigung eines (schwer-)behinderten Menschen musste der Arbeitgeber zudem die Zustimmung des Inklusionsamts einholen. In dem hier entschiedenen Fall beantragte der Arbeitgeber zunächst beim Inklusionsamt die Zustimmung zur beabsichtigten Änderungskündigung und erst danach, nämlich 2 Tage später, hörte er die Schwerbehindertenvertretung an und bat um Stellungnahme. Der gekündigte Arbeitnehmer meinte nun, dass allein schon deshalb die Änderungskündigung unwirksam sei, und klagte.

Schwerbehindertenvertretung zu spät angehört

Das Gericht ließ offen, ob die streitgegenständliche Änderungskündigung bereits im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes sozial ungerechtfertigt sei. Auch die Frage, ob der Zustimmungsbescheid des Inklusionsamt zu beanstanden war, interessierte das Gericht ebenso wenig wie die Frage, ob der Betriebsrat ordnungsgemäß angehört worden war. Denn die Kündigung war bereits deshalb unwirksam, da die Schwerbehindertenvertretung zwingend vor der Stellung des Zustimmungsantrags beim Integrationsamt hätte unterrichtet und angehört werden müssen.

Vorherige Zustimmung des Integrationsamts

Die Kündigung eines (schwer-)behinderten Arbeitnehmers setzt zwingend neben der Anhörung des Betriebsrats und der Schwerbehindertenvertretung die vorherige Zustimmung des Inklusionsamt voraus (§ 167 SGB IX). Der Arbeitgeber darf eine Kündigung also erst dann aussprechen, wenn diese vorliegt. Kündigt er vorher, ist die Kündigung unwirksam. Sie kann auch nicht nachträglich durch das Integrationsamt genehmigt werden.

Erteilt das Integrationsamt dem Arbeitgeber die gewünschte Zustimmung, hat er einen Monat Zeit, die Kündigung zu erklären. Verpasst er den Termin, muss er erneut die Zustimmung einholen.

Achtung: Zustimmung für beide Kündigungsarten

Die Zustimmung ist sowohl für die ordentliche als auch für die außerordentliche Kündigung notwendig.

Fristlose Kündigung

Will ein Arbeitgeber einem (schwer-)behinderten Arbeitnehmer fristlos kündigen, muss er das innerhalb von 2 Wochen nach Kenntnis des Kündigungsgrunds erledigen. Erfährt er also am 1. März von einem Diebstahl dieses Arbeitnehmers zu seinen Lasten, muss diesem die Kündigung grundsätzlich bis zum 15. März zugehen. Der Arbeitgeber hat jedoch das Inklusionsamt zuvor einzuschalten und um dessen Zustimmung zu bitten. Damit ist im Regelfall die 2-Wochen-Frist nicht mehr zu halten. Aus diesem Grund sieht § 174 Abs. 5 SGB IX vor, dass die Kündigung auch nach Ablauf der 2-Wochen-Frist erfolgen kann, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung des Integrationsamts erklärt wird.

Achtung: Kurze Frist gilt nicht nur für Arbeitgeber

Der Betriebsrat hat im Fall einer außerordentlichen Kündigung ebenfalls verkürzte Anhörungsfristen einzuhalten: 3 Tage!

Wann sich (schwer-)behinderte Menschen auf den Sonderkündigungsschutz berufen können

Der besondere Kündigungsschutz für (schwer-)behinderte Arbeitnehmer gilt jedoch ohne Rücksicht auf die Dauer der Probezeit in den ersten 6 Monaten des Arbeitsverhältnisses nicht (§ 173 Absatz 1 Nummer 1 SGB IX). Auch die Mindestkündigungsfrist für (schwer-)behinderte Menschen von 4 Wochen (§ 169 SGB IX) gilt während der Probezeit nicht. Bei einer Kündigung in dieser Zeit ist die Zustimmung des Inklusionsamt deshalb entbehrlich – nicht aber die Anhörung Schwerbehindertenvertretung und Betriebsrat: diese ist immer erforderlich!

Aber auch nach Ablauf der ersten 6 Monate können sich die (schwer-)behinderten Arbeitnehmer nicht immer auf den besonderen Kündigungsschutz berufen. Dies ist vielmehr nur dann der Fall, wenn dem Arbeitgeber die Schwerbehinderteneigenschaft zum Zeitpunkt der Kündigung bekannt oder diese jedenfalls offenkundig ist.

Laut Bundesarbeitsgericht ist es allerdings auch ausreichend, wenn sich ein (schwer-)behinderter Arbeitnehmer nach einer Kündigung in seiner fristgerecht erhobenen Kündigungsschutzklage auf seine Schwerbehinderung und den Sonderkündigungsschutz beruft. Gleichgültig ist hierbei, ob die Klage auch nach Ablauf der 3 Wochen erst zugestellt wird. Daher ist eine gesonderte Mitteilung an den Arbeitgeber nicht mehr erforderlich (BAG, Urteil vom 23.10.2010, Az. 2 AZR 659/08).

Besonderer Kündigungsschutz besteht im Übrigen auch dann schon, wenn

  • der (schwer-)behinderte Kollege spätestens zum Zeitpunkt der Kündigung einen Antrag auf Anerkennung als (schwer-)behinderter Arbeitnehmer oder auf Gleichstellung gestellt hat und
  • das Versorgungsamt hierüber im Nachhinein entschieden hat.

Tipp: Rechte in Anspruch nehmen

Erfährt die Schwerbehindertenvertretung davon, dass ein Kollege den Schwerbehindertenstatus erreicht oder einen entsprechenden Antrag gestellt hat, sollte ihm geraten werden, seinem Arbeitgeber die Veränderung mitzuteilen. Denn so kann er von Anfang an von seinen besonderen Rechten (z.B. Zusatzurlaub, besondere Hilfen) profitieren.

BASISWISSEN

Kündigung (schwer-)behinderter Mitarbeiter
Ihre Beteiligungsrechte als SBV - jetzt sind Sie gefordert

SBV fragt – W.A.F. antwortet
Darf unser Arbeitgeber uns zwingen, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen?

Was ist mit behinderten Kollegen, die gesundheitlich dazu nicht in der Lage sind?

W.A.F. antwortet: Vielen Dank für die Anfrage!

Ja, ein Arbeitgeber wird das in vielen Fällen derzeit anordnen können. Mit dieser Frage hat sich auch das Arbeitsgericht Siegburg beschäftigt (AG Siegburg, Urteil vom 16.12.2020, Az. 4 Ga 18/20). Ein Verwaltungsmitarbeiter klagte gegen seinen Dienstherrn. Dieser hatte bereits im Mai 2020 für Beschäftigte und Besucher im Rathaus das Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung vorgeschrieben. Hiermit war der Mitarbeiter nicht einverstanden. Er legte dem Arbeitgeber ein ärztliches Attest vor, dass ihn ohne Angabe von Gründen von der Maskenpflicht befreite.

Arbeitnehmer zog vor Gericht

Schließlich klagte der Mitarbeiter. Das Gericht ging jedoch davon aus, dass der Gesundheits- und Infektionsschutz der übrigen Beschäftigten und Besucher vorrangig war. Atteste würden hieran nichts ändern, da sie keine konkreten und nachvollziehbaren Angaben dazu enthielten, warum der Mitarbeiter keine Maske tragen kann.

So muss ein Attest ausschauen

Ein ärztliches Attest, nachdem ein Mund-Nasen-Schutz nicht getragen werden muss, muss nach dem Verwaltungsgericht Würzburg folgende Bestandteile haben (VG Würzburg, Urteil vom 16.9.2020, Az. W 8 E 20.1301):

  • den vollständigen Namen
  • das Geburtsdatum
  • konkret benannte gesundheitliche Beeinträchtigungen, die auf Grund einer Mund-Nasen-Bedeckung zu erwarten sind
  • Angaben, woraus sich diese Beeinträchtigungen im Einzelnen ergeben
  • relevante Vorerkrankungen
  • die Grundlagen, wie der attestierende Arzt zu seiner Einschätzung gelangt ist

Das Oberverwaltungsgericht NRW hat entsprechend geurteilt (OVG NRW, Urteil vom 24.09.2020, Az. 13 B 1368/20).

Datenschutz steht dem entgegen

Dagegen sieht das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg insbesondere datenschutz-rechtliche Bedenken gegen die Nennung der Erkrankung und hat eine Regelung des Landes Brandenburg vorläufig außer Vollzug gesetzt. Eine endgültige Entscheidung liegt aber noch nicht vor (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 04.01.2021, Az. 11 S 132/20).

Die Praxis entscheidet

Derzeit ist in der Praxis davon auszugehen, dass der Datenschutz keinen Vorrang hat und entsprechende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich vollständig erklären müssen. Denn spätestens vor Gericht werden sie sogar ihren Arzt von der Schweigepflicht entbinden müssen.

SPEZIAL SEMINAR

Arbeits- und Gesundheitsschutz für die SBV
Arbeitssicherheit: So schützen Sie (schwer-)behinderte Kollegen

Video-Empfehlung des Monats
Kündigungsschutz für (schwer-)behinderte Menschen einfach erklärt

Welchen Kündigungsschutz haben (schwer-)behinderte und gleichgestellte Menschen? Wie darf das Integrationsamt über eine Kündigung entscheiden?Niklas Pastille erklärt es Ihnen in diesem Video!

Rechtsprechungsmonitor
Barrierefreie Gestaltung von Arbeitsplätzen ist Pflicht

LAG Hessen, Urteil vom 21.01.2020, Az. 15 Sa 449/19
Sicherheitsaspekte im Hinblick auf ein eventuelles Evakuierungsszenario können ein überwiegendes Interesse eines Arbeitgebers an einer Nichtbeschäftigung eines (schwer-)behinderten Menschen im Rahmen eines bestehenden Arbeitsverhältnisses nicht rechtfertigen, bevor der Arbeitgeber nicht die ihm obliegenden Verpflichtungen aus § 3a Abs. 2 ArbStättV und § 10 ArbSchG zur barrierefreien Gestaltung von Arbeitsplätzen erfüllt hat.

Der Fall: Im vorliegenden Fall stritten Arbeitnehmer und Arbeitgeber um den Anspruch des Arbeitnehmers auf Beschäftigung. Der Arbeitnehmer, der aufgrund einer Gehbehinderung einen GdB von 70 hat, nutzt seit vielen Jahren zur Unterstützung beim Gehen eine rechtsseitige Unterarmgehstütze. Er ist beim Arbeitgeber im Lager als Teamkoordinator beschäftigt und hat seinen Büroraum innerhalb der Lagerhalle, in der auch explosionsgefährdete Materialien gelagert werden. Bei Bestehen einer solchen akuten Gefährdungslage ist der Arbeitgeber verpflichtet, eine rechtzeitige Evakuierung der Gebäude zu gewährleisten. Der Sammelplatz für die evakuierten Mitarbeiter befindet sich auf dem Parkplatz und kann von dem Arbeitnehmer aufgrund seiner Behinderung nicht in angemessener Zeit erreicht werden. Nach einem Gespräch mit der Personalabteilung beantragte der Arbeitgeber die Zustimmung des Integrationsamtes zur beabsichtigten ordentlichen Kündigung des Arbeitnehmers und stellte ihn widerruflich von der Arbeitsleistung frei. Die außergerichtliche Aufforderung des Arbeitnehmers, ihn weiter zu beschäftigen, lehnte der Arbeitgeber ab. Daraufhin erhob der Arbeitnehmer Beschäftigungsklage beim Arbeitsgericht. Nach einem Termin mit dem Integrationsamt im Betrieb wurde dem Arbeitnehmer ein Aktivrollstuhl zur Verfügung gestellt. Ein Evakuierungstest kam zu dem Ergebnis, dass sich der Arbeitnehmer unter Zuhilfenahme des Rollstuhls retten könnte, wenn der Arbeitgeber die zu befahrenen Wege im Unternehmen behinderten- bzw. rollstuhlgerecht ausstatten und ihm darüber hinaus ein Evakuierungshelfer zur Unterstützung bereitstehen würde. Das AG Darmstadt gab daher der Beschäftigungsklage statt und verurteilte den Arbeitgeber zur Beschäftigung des Arbeitnehmers als Teamkoordinator gemäß seines Anspruches aus § 611 Abs. 1 BGB i. V. m. § 164 Abs. 4 S. 1 SGB IX. Hiergegen wendet sich der Arbeitgeber mit der Berufung vor dem LAG.

Die Entscheidung des Gerichts: Das LAG wies im Ergebnis die Kündigung zurück und folgte seiner langjährigen Rechtsprechung, nach der der Arbeitgeber grundsätzlich im bestehenden Arbeitsverhältnis verpflichtet ist, seinen Arbeitnehmer vertragsgemäß zu beschäftigen, wenn dieser es verlangt. Dieser Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers muss nur dann zurücktreten, wenn überwiegende und schutzwürdige Interessen des Arbeitgebers dem Anspruch entgegenstünden. Zwar könnten Sicherheitsaspekte im Hinblick auf ein eventuelles Evakuierungsszenario ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers an einer Nichtbeschäftigung des Arbeitnehmers rechtfertigen, jedoch nicht bevor der Arbeitgeber die ihm obliegenden Pflichten aus § 3a Abs. 2 ArbStättV und § 10 ArbSchG zur barrierefreien Gestaltung von Arbeitsplätzen erfüllt habe.

Auch aus dem Vorbringen des Arbeitgebers, der Arbeitnehmer könne einen erheblichen Anteil seiner arbeitsvertraglich geschuldeten Leistung nicht mehr erbringen, folge kein überwiegendes und schützenswertes Interesse. Ausweislich einer ärztlichen Beurteilung seien dem Arbeitnehmer lediglich 5 von 25 Teilaufgaben nicht mehr möglich.

Das bedeutet die Entscheidung für Sie: Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die Menschen mit Behinderungen beschäftigen, müssen die Arbeitsstätte so einrichten und betreiben, dass die besonderen Belange dieser Beschäftigten im Hinblick auf die Sicherheit und den Schutz der Gesundheit berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere für die barrierefreie Gestaltung von Arbeitsplätzen, Sanitär-, Pausen- und Bereitschaftsräumen, Kantinen, Erste-Hilfe-Räumen und Unterkünften sowie den zugehörigen Türen, Verkehrswegen, Fluchtwegen, Notausgängen, Treppen und Orientierungssystemen, die von den Beschäftigten mit Behinderungen benutzt werden. Dabei handelt es sich um eine ernst zu nehmende gesetzliche Verpflichtung. Beachten Sie hierbei auch, dass § 3a Abs. 2 ArbStättV nicht auf den Schwerbehinderungsstatus abstellt, sondern der Schutzbereich alle behinderten Beschäftigten umfasst.

NEU

Behindertengerechte Arbeitsplatzgestaltung
Barrierefrei arbeiten: Ihre Rechte als SBV
Keine Beteiligung der SBV vor Entscheidung über den Gleichstellungsantrag erforderlich

BAG, Beschluss vom 22.01.2020, Az. 7 ABR 18/18
Hat ein Arbeitnehmer mit einem Grad der Behinderung von 30 die Gleichstellung mit einem (schwer-)behinderten Menschen beantragt und dies dem Arbeitgeber mitgeteilt, ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, die Schwerbehindertenvertretung über die beabsichtigte Umsetzung dieses Arbeitnehmers zu unterrichten und sie hierzu anzuhören, wenn über den Gleichstellungsantrag noch nicht entschieden ist.

Der Fall: Im Streitfall ging es um eine Arbeitnehmerin, die als behinderter Mensch mit einem GdB von 30 anerkannt ist und bei der Arbeitgeberin, einem Jobcenter, beschäftigt ist. Am 4. Februar 2015 stellte die Arbeitnehmerin einen Antrag auf Gleichstellung mit einem (schwer-)behinderten Menschen bei der Bundesagentur für Arbeit und informierte ihren Arbeitgeber hierüber. Dieser setzte die Arbeitnehmerin im November 2015 für die Dauer von sechs Monaten in ein anderes Team um, ohne zuvor die Schwerbehindertenvertretung unterrichtet und angehört zu haben. Im April 2016 wurde dem Gleichstellungsantrag rückwirkend zum 4. Februar 2015 stattgegeben.

Die Entscheidung des Gerichts: Das BAG bestätigte die Entscheidung des LAG und lehnte eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur vorsorglichen Unterrichtung und Anhörung der SBV bei einer beabsichtigten Umsetzung eines behinderten Arbeitnehmers ab, wenn über dessen Gleichstellungsantrag noch nicht entschieden wurde. Nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX hat der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die (schwer-)behinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören. Diese Regelung gilt gemäß § 151 Abs. 1 SGB IX für (schwer-)behinderte und diesen gleichgestellte behinderte Menschen. Die Beteiligungspflicht bei Umsetzungen bestehe im Umkehrschluss nicht, wenn die Umsetzung einen behinderten Arbeitnehmer betrifft, der einen Antrag auf Gleichstellung zwar gestellt hat, über den jedoch noch nicht entschieden ist. Denn die Gleichstellung erfolge erst durch die konstitutiv wirkende Feststellung der Bundesagentur für Arbeit. Erst ab diesem Zeitpunkt bestehe das Beteiligungsrecht der SBV bei der Umsetzung nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX. Zwar wirke die Gleichstellung nach § 151 Abs. 2 Satz 2 SGB IX auf den Tag des Eingangs des Antrags zurück. Dies begründe jedoch nicht die Verpflichtung des Arbeitgebers, die SBV vor der Entscheidung über den Gleichstellungsantrag vorsorglich über eine Umsetzung zu unterrichten und anzuhören. Das sei im Übrigen auch mit den Vorgaben des Unionsrechts und der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar, betonte das BAG.

Das bedeutet die Entscheidung für Sie: Auch bei einer geplanten Kündigung des Arbeitgebers ist die Entscheidung des BAG zu beachten. Solange der Arbeitnehmer zwar einen Gleichstellungsantrag gestellt hat, aber noch keine positive Entscheidung der Agentur für Arbeit vorliegt, muss die SBV auch vor der geplanten Kündigung eines behinderten Arbeitnehmers nicht beteiligt werden.

SPEZIAL SEMINAR

Anerkennung der (Schwer-)Behinderung und Gleichstellung
Als SBV Ihre Kollegen qualifiziert beraten
Verwirkung des Sonderkündigungsschutzes (schwer-)behinderter Arbeitnehmer

LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 05.03.2020, Az. 2 Sa 147/19
Ist das Recht eines Arbeitnehmers, sich nach Zugang der Kündigung auf eine Schwerbehinderung zu berufen, verwirkt, steht eine später mitgeteilte Schwerbehinderung einem Auflösungsantrag des Arbeitgebers nicht entgegen.

Der Fall: Der Kläger war als Leiter eines Kindergartens beschäftigt. Er übte diese Tätigkeit von Februar bis Juni 2017 aus und war dann in der Folgezeit bis zum 31. Mai 2019 arbeitsunfähig erkrankt. Mit Bescheid vom 1. Februar 2019 wurde mit Wirkung zum 20. Juli 2018 ein GdB von 50 festgestellt. Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis nach Einholung der Zustimmung der Mitarbeitervertretung (MAV) mit Schreiben vom 9. August 2018 ordentlich zum 30. September 2018. Hiergegen richtete sich die Kündigungsschutzklage des Klägers. Im Kammertermin November 2018 wies er die Arbeitgeberin erstmals darauf hin, dass er bereits vor Zugang der Kündigung einen Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft gestellt habe. Das Arbeitsgericht Mainz hat in 1. Instanz der Kündigungsschutzklage stattgegeben und den Auflösungsantrag der Arbeitgeberin zurückgewiesen. Hiergegen hat die Arbeitgeberin Berufung eingelegt.

Die Entscheidung des Gerichts: Das LAG Rheinland-Pfalz hat der Berufung stattgegeben und die Auflösung des Arbeitsverhältnisses zum 30. September 2018 festgestellt. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG kommt eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung auf Antrag des Arbeitgebers nach § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG nur in Betracht, wenn eine ordentliche Kündigung allein aufgrund ihrer Sozialwidrigkeit und nicht aus anderen Gründen i.S.v. 13 Abs. 3 KSchG rechtsunwirksam ist. Diese Voraussetzungen lägen hier vor, ein anderer Unwirksamkeitsgrund sei nicht ersichtlich. Der Arbeitgeber könne sich nicht auf seine zwischenzeitlich anerkannte Schwerbehinderteneigenschaft berufen. Nach der Rechtsprechung des BAG unterliegt das Recht des Arbeitnehmers, sich erstmalig nach Zugang der Kündigung auf den Sonderkündigungsschutz als (schwer-)behinderter Mensch zu berufen, der Verwirkung, wobei als Maßstab für die Rechtzeitigkeit der Geltendmachung von der Drei-Wochen-Frist des § 4 S. 1 KSchG auszugehen ist. Danach habe sich der Arbeitnehmer nicht rechtzeitig gegenüber der Arbeitgeberin auf seine zur Feststellung beantragte Schwerbehinderteneigenschaft berufen, so dass aufgrund der eingetretenen Verwirkung der besondere Kündigungsschutz nach § 168 SGB IX nicht eingreife.

Das bedeutet die Entscheidung für Sie: Der Arbeitgeber muss bei Ausspruch der Kündigung keine Kenntnis vom Sonderkündigungsschutz haben. Der Arbeitnehmer muss ihn jedoch rechtzeitig – spätestens innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung – nachträglich informieren. Ausreichend ist insofern die Mitteilung, dass eine Schwerbehinderung festgestellt oder beantragt ist. Unterbleibt eine entsprechende Mitteilung, greift der besondere Kündigungsschutz nach § 168 SGB IX nicht.

NEU

Betriebsverfassungs- und Arbeitsrecht für die SBV
Wichtiges Grundlagenwissen für die SBV erwerben

Podcast-Empfehlung des Monats
Die SBV „tut nichts“ – darf dann der Stellvertreter ran?

Vertrauenspersonen für Schwerbehinderte sind bienenfleißig – in der Regel. Natürlich aber gibt es auch dort einige schwarze Schafe. Was tun, wenn die SBV schlicht „nichts tut“?

Unsere Empfehlung
Neue Seminarangebote der W.A.F.

Zusammenarbeit von Betriebsrat und SBV
Sich zum Wohl (schwer-)behinderter Kollegen optimal ergänzen
Webinar: Schwerbehindertenvertretung Teil 1
Aufgaben und Möglichkeiten der SBV

Bitte antworten Sie nicht auf diese E-Mail. Wenn Sie uns Änderungen Ihrer Betriebsratsdaten zukommen lassen möchten senden Sie bitte eine E-Mail an mail@waf-seminar.de.
© W.A.F. Institut für Betriebsräte-Fortbildung AG